Als die Autorin Jenny Erpenbeck mit ihren Recherchen vor einigen Jahren für einen Roman zum Thema Flüchtlinge begann, konnte sie kaum ahnen, dass die Realität sie überholen würde. Die Hauptperson der Geschichte mit dem Titel „Gehen, ging, gegangen“, der emeritierte Literaturprofessor Richard, stünde nun, im Herbst 2015, vor noch schwerer wiegenden Fragen als im Winter 2013/2014. Richard bewohnt allein ein geräumiges Haus an einem Berliner See. Dort ist im Sommer jemand ertrunken, eine Art Mittelmeer vor der Haustür. Die Routine von Richards Ruhestandsalltag wird unterbrochen, als er im Regionalfernsehen etwas sieht, woran er mittags gedankenlos vorbeigegangen ist: eine Demonstration afrikanischer Migranten am Oranienplatz. Sie wollen auf ihre Lage aufmerksam machen. Der Bericht weckt Richards Interesse. Er besucht die Flüchtlingsunterkunft und lässt sich die Geschichten von Menschen erzählen, die nicht wie viele andere im Mittelmeer ertrunken sind, sondern es bis Berlin geschafft haben. Was diese Männer zu sagen haben, ist furchtbar. Ihre Schicksale sind verschieden, aber ihre Probleme ziemlich gleich. Richard bringt sich helfend ein, lässt den einen zuhause an seinem Klavier üben, vermittelt einen anderen als Pfleger, kauft der Familie eines Dritten ein Grundstück in Afrika, begleitet bei Behördengängen und gibt Deutschunterricht („gehen, ging, gegangen“), wohl wissend, dass Einzelfallhilfe die Probleme nicht grundsätzlich löst. Der Leser lernt mit Richard viel über das Asylrecht. Das Dickicht der Bestimmungen führt zu kafkaesken Situationen. Als am Ende einigen Migranten die Abschiebung droht, stellt Richard sein Haus als Unterkunft zur Verfügung. Ist das ein Roman? Erpenbeck erzählt eine Fiktion, die ganz nahe an der Wirklichkeit ist. Sie diskutiert nicht „die Flüchtlingsfrage“, sondern gibt anonymen Fremden ein individuelles Gesicht. Wer sich dagegen abschotten will, darf dieses Buch nicht lesen.
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